Eine Weinheimer Tragödie

10. Oktober 2022/3. URBEX

Stolpersteine
in Weinheim

REALISIERT: OKTOBER 2022
PHOTOGRAPH: ROGER SCHÄFER
TEXT: HANS BAYER
KATEGORIE: URBANE EXPLORATION

Schon vor der Reichspogromnacht hatte sich der Druck auf die Juden verstärkt. Die Verfügung vom 17. August 1936 bestimmte, dass alle männlichen Juden den Zusatznamen „Israel“ und alle weiblichen den Zusatznamen „Sarah“ zu tragen hatten. Am 7. November 1938 schießt der 17-jährige Herschel Grünspan in Paris auf den deutschen Gesandtschaftsrat Ernst vom Rath und verletzt ihn so schwer, dass der Diplomat zwei Tage späte stirbt. „Spontan“ beginnen in der Nacht zum 10. November 1938 im ganzen Reich die Verfolgungsaktionen gegen Juden. Ihre Gotteshäuser werden in Brand gesteckt, ihre humanitären Einrichtungen verwüstet, ihre Geschäfte geplündert. Die“Reichskristallnacht“ leitet die Verschleppung der Juden in die Konzentrationslager ein – auch in Weinheim.

Am 8. November 1938 wurde die Synagoge aufgebrochen und mit Pickeln und Äxten demoliert. Dann mussten die Bewohner der Nachbarhäuser an der Ehretstraße ihre Wohnungen verlassen und die Synagoge wurde in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 mit der Sprengkraft von 25 Kilogramm Gelatine Donarit zerstört. Gleichzeitig wurden die Schaufenster der jüdischen Geschäfte in der Innenstadt eingeschlagen und aus den Wohnungen jüdischer Mitbürger flogen Porzellan und Glas, aus dem Haus des Synagogenvorstehers David Benjamin sogar ein Klavier auf die Straße: „Kristall“-Nacht im wahrsten Sinne des Wortes.

Das „Hakenkreuzbanner“, das „nationalsozialistische Kampfblatt für Nordwestbaden“ berichtete am 10. November 1938 unter der Überschrift: „Da war Heulen und Zähneklappern!“ u. a.: „Man rückte dem jüdischen Pöbel auf den Pelz … Die feige Mordtat am Gesandtschaftsrat vom Rath in Paris hat ihren Widerhall im Volk gefunden … Gestern Vormittag gab es in der Bürgermeister- Ehret-Straße Ansammlungen und bald wurde bekannt, dass eine erregte Menschenmenge die Synagoge … demoliert hatte. Die einstige Mauschelzentrale der jüdischen Mischpoke ist nur noch eine Ruine“ und meinte am 11. November 1938 unter der Überschrift: „So musste es kommen“, die Ereignisse hätten „in allen Schichten unseres Volkes tiefste Befriedigung hervorgerufen“.

Als die Synagoge brannte, hatten 102 jüdische Bürger bereits ihre Heimatstadt Weinheim verlassen. In den ersten 5 Jahren der Naziherrschaft sind rund 130.000 deutsche Juden emigriert. Nach dem November 1938 gelang zwei Weinheimer Juden die Emigration. Das waren der Metzgermeister Max Oppenheimer, zeitweilig Häftling des Konzentrationslagers Buchenwald, und der Kaufmann Herbert Stiefel, dessen Abschied von hämischen Kommentaren der Nazi-Presse begleitet wird.

Das Ende der einst blühenden jüdischen Gemeinde begann am 22. Oktober 1940, als die letzten 46 Weinheimer Juden ins Vernichtungslager Gurs am Fuße der Pyrenäen in Südfrankreich deportiert wurden. Von den Deportierten sind 8 in französischen Lagern gestorben, und 15 sind in Auschwitz umgekommen. 8 konnten auswandern, 16 sind verschollen. Leopold Schloß ist am 7.2.1945 in Buchenwald umgekommen. Der Religionslehrer Artur Auerbacher war mit Ehefrau und zwei Söhnen nach Berlin umgezogen. Von dort aus wurde er mit seiner Familie nach Izbica deportiert. Seither sind sie verschollen. Karl Heinz Klausmann, der bei der Aktion Gurs zurückblieb, verschwand 1942. Sein Schicksal ist unbekannt. Elsa Sernatinger, Florence Siehl und Lina Zatter, die mit „arischen“ Männern verheiratet waren, überlebten das „Dritte Reich“ in Weinheim, waren aber mancherlei Schikanen ausgesetzt. Die wenigen Juden, die heute wieder in Weinheim leben, gehören der jüdischen Gemeinde in Mannheim an.

Die Stolpersteine sind ein Denkmal und ein Mahnmal für die Opfer des Nationalsozia­lismus. ln Weinheim regte eine Gruppe von Privatpersonen die Ver­legung der Steine an. Zwischen 2006 und 2008 wurden 40 Stolpersteine in Weinheim, vier in Lützelsachsen, sowie 2017 ein weiterer in Weinheim durch private Initiative verlegt.

Mühlweg 12
Hauptstraße 17
Hauptstraße 28
Tannenstraße 13
Lindenstraße 16
Lindenstraße 21
Friedrichstraße 5
Hauptstraße 63
Hauptstraße 69
Hauptstraße 89
Hauptstraße 97
Hauptstraße 167
Amtsgasse 1
Amtsgasse 3
Müllheimer Talstraße 24
Weinheimer Straße 25
Wintergasse 59/61 (Weinheimer Straße 7)

Eine Weinheimer Tragödie

Eine Weinheimer Tragödie

“Da sind nur du und deine Kamera. Die Grenzen deiner Photographie liegen in dir selbst, denn was wir sehen, ist was wir sind.”

 

Ernst Hass

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